Neue Besen kehren gut?
Nach einem längeren Konkurrentenstreit, der so weit ging, dass teilweise die Gefahr einer Handlungsunfähigkeit mehrerer Strafsenate des Bundesgerichtshofs bestand,[1] und der in gewisser Weise auch presseöffentlich[2] geführt wurde und so mehrfach tiefgehende Einblicke in die Tätigkeit eines Revisionsgerichts bot,[3] amtiert nach Einschreiten der damaligen Bundesjustizministerin[4] seit 25. Juni 2013 Prof. Dr. Fischer als Vorsitzender des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, der mit beneidenswerter Schaffenskraft daneben noch nicht nur „den“ Praktikerkommentar zum Strafgesetzbuch[5] verfasst und als Autor am Karlsruher Kommentar zur StPO mitschreibt sowie die Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) mitherausgibt, sondern auch gerne Vorträge hält und sich nicht nur in der Fachpresse,[6] sondern auch in einer Wochenzeitung regelmäßig[7] in gewohnt wortgewaltiger und pointierter Weise zu Wort meldet.
Die Schaffenskraft seines Vorsitzenden scheint dabei auch auf den Senat abzufärben, der nunmehr schon zum zweiten Mal in diesem Jahr - teils unter Aufgabe eigener Rechtsprechung - einen Anfragebeschluss verfasst hat, mit dem er jeweils die bisherige ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu verändern trachtet.
Die gesetzesalternative Wahlfeststellung
Zum einen geht das dabei um die Frage der sog. gesetzesalternativen Wahlfeststellung. Dem liegt zugrunde, dass in manchen Fällen zwar feststeht, dass der Angeklagte eine Straftat begangen hat, aber nicht sicher festgestellt werden kann, welche Tat dies war. So könnte bspw. bei einer Durchsuchung offenkundiges Diebesgut aufgefunden werden, dem man eindeutig ansieht, dass es in dieser Weise und dieser Form nicht legal gehandelt worden ist - man weiß damit aber noch nicht, ob der Angeklagte die Ware selbst gestohlen hat oder sie - in Kenntnis ihrer Herkunft aus einer Straftat - angekauft hat, ob er also Dieb oder Hehler ist. Für beide Delikte schreibt das Gesetz in §§ 242, 259 StGB denselben Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe vor; die Taten sind sich auch phänomenologisch nahe. In solchen Fällen “rechtsethischer und psychologischer Vergleichbarkeit” ist es nach ständiger Rechtsprechung[8] möglich und zulässig, den Angeklagten wegen Diebstahls oder Hehlerei zu verurteilen. Taten, die entweder in ihrer Art ganz verschieden sind oder bei denen die Strafdrohungen stark differieren, können hingegen nicht auf wahldeutiger Grundlage verurteilt werden. Bleibt also unklar, ob der Täter einen Menschen fahrlässig getötet oder ermordet hat, scheidet trotz der tatsächlichen Ähnlichkeit der Taten - die sich nach außen hin sogar identisch darstellen können, weil der Unterschied ausschließlich im subjektiven Bereich des Vorsatzes liegt, also darin, was der Täter wusste und wollte, als er die Tat beging - eine Wahlfeststellung aus.
Bei der Betrachtung von außen scheint sich mir dieses durch die Rechtsprechung geschaffene Konstrukt geradezu aufzudrängen; ist es erwiesen, dass der Angeklagte mit Sicherheit eine Straftat begangen hat, allerdings nicht, welche von zwei in Betracht kommenden, von Art und Weise und Strafmaß vergleichbaren Taten es gewesen ist, drängt es sich jedenfalls dem Laien nicht auf, den Angeklagten dann insgesamt freizusprechen - immerhin hat er fraglos etwas strafbares getan. Dem hält der 2. Strafsenat in seinem Anfragebeschluss vom 28.01.2014[9] entgegen, dass eine solche Konstruktion über die zulässige Rechtsfortbildung durch Richterrecht hinausginge und einer gesetzlichen Grundlage bedürfe.[10] Dabei scheint er bislang aber nicht sehr erfolgreich mit seinem Bemühen zu sein, die übrigen Strafsenate von seiner Auffassung zu überzeugen. Nach dem 5. Strafsenat, der sich mit seiner bereits am 15.8.2014 veröffentlichten Entscheidung aus dem Juli gegen eine Änderung der bisherigen - und auch seiner - Rechtsprechung gewandt hatte,[11] liegt einige Tage später nun auch der bereits aus dem Juni 2014 stammende Beschluss des 1. Strafsenats[12] vor, in dem dieser sich durchaus umfangreich mit der durch den 2. Strafsenat aufgeworfenen Frage befasst und dessen Auffassung aus verschiedenen Gründen zurückgewiesen hat.
Stellungnahme des 1. Strafsenats
Der 1. Senat führt zunächst aus:
Bei den Regeln zur gesetzesalternativen (ungleichartigen) Wahlfeststellung handelt es sich um Verfahrensregeln, die nicht Art. 103 Abs. 2 GG unterfallen.
Er ergänzt dann aus Sicht des Grundrechtsschutzes:
Im Übrigen liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG auch deshalb nicht vor, weil die Strafbarkeit in Fällen gesetzesalternativer Wahlfeststellung durch den Gesetzgeber bestimmt und für den Normunterworfenen vorhersehbar ist.
[...]
Für den Normadressaten ist in den Fällen der gesetzesalternativen Wahlfeststellung jederzeit vorhersehbar, welches Verhalten strafbar ist und welches nicht. Eine Ausdehnung der strafbewehrten Verhaltensanforderungen geht mit der gesetzesalternativen Wahlfeststellung nicht einher. In dem vom 2. Strafsenat zu entscheidenden Fall konnten die Angeklagten etwa unschwer erkennen, dass sowohl der Diebstahl als auch die Hehlerei strafbar sind, und ihr Verhalten entsprechend einrichten.
Zudem beruft er sich auf den Willen des Gesetzgebers:
Diese Auffassung entspricht im Ergebnis der Einschätzung des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber hat sich im Rahmen der Überlegungen zum 3. Strafrechtsänderungsgesetz ausdrücklich die Frage gestellt, ob er die gesetzesalternative Wahlfeststellung gesetzlich regeln soll oder nicht. In den Gesetzesmaterialien, die der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages zugrunde lagen [...], heißt es dazu (BT-Drucks. I/3713 S. 19):
"[...] Insbesondere enthielt der aufgehobene § 2 b (Wahlweise Verurteilung) kein nationalsozialistisches Gedankengut. Wenn der Entwurf davon absieht, die Vorschrift zu erneuern, so geschieht das aus folgenden Erwägungen: In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist erneut anerkannt worden, daß wahlweise Schuldfeststellungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind. Die obersten Gerichte haben sich daher im wesentlichen der Rechtsprechung des Reichsgerichts angeschlossen, wie sie vor der Einfügung des § 2 b in der Plenarentscheidung vom 2. Mai 1934 [...] ihren Niederschlag gefunden hatte. Zum Teil ist der Bundesgerichtshof bereits darüber hinausgegangen. Unter diesen Umständen wird die Frage, wie die Grenzen für die Zulässigkeit von wahlweisen Schuldfeststellungen zu ziehen sind, auch in Zukunft der Rechtsprechung und dem Schrifttum überlassen werden können."
Abschließend bestätigt er das Merkmal der "rechtsethischen und psychologischen Gleichwertigkeit":
Das von der Rechtsprechung entwickelte einschränkende Merkmal der "rechtsethischen und psychologischen" Gleichwertigkeit der verschiedenen Straftaten stellt sicher, dass die Rechtsfolgenentscheidung trotz Tatsachenalternativität an einen ausreichend einheitlichen Schuldvorwurf anknüpfen kann.
Insbesondere auch aus praktischer Sicht halte ich diese Auffassung für vorzugswürdig. Es entspricht dem Gerechtigkeitsempfinden und m.E. auch der materiellen Gerechtigkeit, jemanden, der erwiesenermaßen eine Straftat begangen hat, auch dann wegen dieser Tat zu bestrafen, wenn die rechtliche Bewertung seines Handelns aus tatsächlichen Gründen nicht sicher möglich ist - jedenfalls so lange, wie die Taten vergleichbar sind.
Qualifizierte Belehrung zeugnisverweigerungsberechtigter Zeugen
Zum anderen hat der 2. Strafsenat sich mit Anfragebeschluss vom 04.06.2014[13] nunmehr der Frage der Verwertbarkeit richterlicher Vernehmungen von zeugnisverweigerungsberechtigten Personen zugewandt, die er nur für den Fall einer sog. „qualifizierten“ Belehrung bejahen möchte. Das berührt ein insbesondere bei Delikten im sozialen Nahbereich durchaus praxisrelevantes Phänomen, dass nämlich Opfer und Zeugen einer Tat oft zwar zunächst bereit sind, Angaben gegen den - mit ihnen verwandten - Täter zu machen, diese Aussagebereitschaft aber nicht bis zu ihrer Vernehmung in der Hauptverhandlung fortbesteht. Mag das im Einzelfall daran liegen, dass mit zunehmendem Abstand von der Tathandlung die Hoffnung wächst, zukünftig werde mit dem Täter - häufig der Ehemann oder Vater - doch ein friedliches Familienleben möglich werden, mag die Verlustangst die Angst vor weiteren Taten überwiegen, mag auch nur die Bereitschaft zur öffentlichen Aussage in der Hauptverhandlung fehlen (sei es aufgrund der belastenden Situation einer öffentlichen Aussage vor Publikum, ggf. in Gegenwart des Angeklagten und/oder seiner Angehörigen in der besonderen Atmosphäre eines Gerichtssaals, sei es manchmal auch aufgrund von Einwirkung durch Dritte, gerade auch in anderen Kulturkreisen) - die rechtliche Folge ist immer die, dass alle vorherigen Aussagen im Ermittlungsverfahren nicht mehr verwertbar sind. Das ergibt sich aus § 252 StPO, der nach seinem Wortlaut allerdings nur die Verlesung des Protokolls der Aussage verbietet, und aus der Auslegung dieser Norm in der Rechtsprechung, die auch jede indirekte Einführung der Angaben des Zeugnisverweigerungsberechtigten, bspw. durch Vernehmung der Vernehmungspersonen als Zeugen vom Hörensagen, ausschließt. Davon gibt es nur eine Ausnahme: die Verwertung einer richterlichen Vernehmung ist weiterhin möglich, und zwar (nur) in der Weise, dass der Ermittlungsrichter, der die Vernehmung durchgeführt hat, seinerseits nun als Zeuge über den Inhalt der von ihm durchgeführten Vernehmung gehört wird.
Eine solche Vernehmung muss daher bei der entsprechenden Konstellation bereits im Ermittlungsverfahren möglichst bald erfolgen,[14] weil oft nur so gesichert ist, dass der Tatnachweis auch in der Hauptverhandlung geführt werden kann - umso mehr, wenn die vorhandenen übrigen Beweismitteln und anderen Zeugenaussagen alleine, ohne die Aussage des Opfers oder anderer Verwandter, nicht ausreichend sind. Es wäre fatal, wenn sich der Beschuldigte ggf. monatelang in Untersuchungshaft befände, nur um dann aufgrund einer „Rücknahme“ der Aussage durch einen zeugnisverweigerungsberechtigten Verwandten freigesprochen werden zu müssen. Insofern ist möglichst bald Klarheit zu schaffen, ob und welche Angaben gesichert auch für eine Hauptverhandlung zur Verfügung stehen werden, und dementsprechend entweder das Verfahren weiterzuverfolgen oder den als unschuldig geltenden Beschuldigten unverzüglich aus der Haft zu entlassen.
In dieser richterlichen Vernehmung ist der Zeuge fraglos über sein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO zu belehren; auch besteht ein Anwesenheits- und Konfrontationsrecht zumindest der Verteidigung.[15] Der 2. Strafsenat verlangt nun darüber hinaus für eine Einführung dieser Vernehmung in die Hauptverhandlung - durch Vernehmung des Ermittlungsrichters, der die Vernehmung geführt hat - zu Beginn der Vernehmung eine Belehrung darüber, dass diese Aussage nicht mehr „zurückgenommen“ werden kann, sondern dauerhaft, auch in der Hauptverhandlung verwertbar bleibt.
Begründung des 2. Strafsenats
Der Senat begründet dies folgendermaßen:
Begründet wurde dies [die fehlende Notwendigkeit einer solchen qualifizierten Belehrung] mit der Erwägung, dass ein Zeuge nicht einmal auf die Möglichkeit des Widerrufs eines erklärten Verzichts auf sein Zeugnisverweigerungsrecht noch während der laufenden Vernehmung hingewiesen werden müsse; umso weniger sei es deshalb geboten, ihn schon vorsorglich für den Fall, dass er in der Hauptverhandlung das Zeugnis verweigern sollte, über die Auswirkungen auf die Verwertbarkeit seiner Aussage hinzuweisen [...]. Ergänzend wurde angeführt, für die Annahme einer solchen Belehrungs- oder Hinweispflicht fehle es an einer gesetzlichen Grundlage [...]. Diese Begründung erscheint dem Senat nicht mehr tragfähig.
[…]
Abweichend von der bisherigen Rechtsprechung sieht der Senat diese Ausgangsüberlegung aber nur dann als gerechtfertigt an, wenn der Zeuge in der im Ermittlungsverfahren durchgeführten richterlichen Vernehmung ausdrücklich auch darüber belehrt worden ist, dass eine jetzt gemachte Aussage auch dann verwertbar bleibt, wenn er in einer späteren Hauptverhandlung vom Recht der Aussageverweigerung Gebrauch macht [...]. Erforderlich ist daher eine "qualifizierte" Belehrung, welche den Zeugen umfassend in die Lage versetzt, über seine Aussagebereitschaft und deren mögliche Folgen für das spätere Verfahren zu entscheiden, und zugleich die Ausnahme von einem umfassenden Verwertungsverbot bei einer richterlichen Vernehmung legitimiert.
Zu Recht hat der BGH vielfach auf die besondere Bedeutung der Belehrung des Zeugen für dessen Entscheidung hingewiesen, Angaben zu machen [...]. Zu der hierfür erforderlichen umfassenden Information gehört aber nicht allein die Kenntnis eines zum Zeitpunkt der Vernehmung bestehenden Zeugnisverweigerungsrechts, sondern auch die Kenntnis über die möglichen verfahrensrechtlichen Konsequenzen der Aussagebereitschaft. Denn für die in den meisten Fällen nicht rechtskundigen Zeugen liegt es in der Regel fern, sich zum Zeitpunkt einer (richterlichen) Vernehmung im Ermittlungsverfahren von sich aus Gedanken darüber zu machen, ob auch bei späterer Aussageverweigerung - für welche es eine Vielzahl nicht zu überprüfender Gründe geben kann - ihre Aussage verwertbar bleibt. Die von §§ 52, 252 StPO geschützten Interessen gebieten es vor diesem Hintergrund, den Zeugen auch darüber zu belehren, dass er an zu diesem Zeitpunkt endgültig und unwiderruflich über die Wahrnehmung des ihm zustehenden Zeugnisverweigerungsrechts zu entscheiden hat. Geschieht dies - wie bisher - nicht, leidet der Entschluss des Zeugen an einem durchgreifenden Mangel, weil er sich dieser Konsequenz seines Handelns nicht bewusst ist [...].
Eine in diesem Sinn qualifizierte Belehrung bietet hingegen eine sichere Grundlage für die Entscheidung des Zeugen. Sie kann zudem seinen Blick auf die bei ihm bestehende Konfliktsituation schärfen, die ansonsten für den Angehörigen oft erst unmittelbar vor und während der Hauptverhandlung erkenn- und spürbar wird [...].
Sofern man anders als der Senat davon ausginge, der Zeuge sei angesichts des Verfahrensgangs ohnehin meist der Ansicht, dass mit der richterlichen Vernehmung seine Angaben für eine spätere Hauptverhandlung gesichert werden sollen, würde dies keinen genügenden Grund darstellen, von einer entsprechenden Belehrungspflicht abzusehen. Diese würde insoweit jedenfalls die "Ausnahmefälle" erfassen, in denen es an der entsprechenden Kenntnis fehlt; für die Praxis der Strafverfolgung hätte sie überdies keine besondere Relevanz, weil die maßgeblichen Entscheidungen der Zeugen schon jetzt in umfassender Kenntnis der damit verbundenen Auswirkungen getroffen würden.
Folgen einer solchen Belehrungspflicht aus praktischer Sicht
Mag eine solche Belehrung jedenfalls zulässig, vielleicht auch wünschenswert sein, so erschließt sich mir aber doch nicht, warum sie zwingend sein sollte. Das würde zumindest voraussetzen, dass ansonsten die ernsthafte Gefahr eines Irrtums bei dem Zeugen bestünde, dergestalt, dass er annehmen würde, seine Angaben in der richterlichen Vernehmung jederzeit zurücknehmen zu können. Diese Annahme erscheint mir jedoch eher lebensfremd; auch dem rechtlichen Laien wird sich die besondere Bedeutung einer richterlichen Vernehmung angesichts der Umstände und des damit verbundenen Aufwands aufdrängen. Außerdem erschiene eine solche Annahme insoweit widersprüchlich, als allgemein anerkannt ist, dass im Falle einer nicht verwertbaren Vernehmung eines Beschuldigten oder Zeugen - bspw. aufgrund einer fehlerhaften Belehrung - bei einer erneuten Vernehmung eine qualifizierte Belehrung deshalb erforderlich ist, weil ansonsten der Irrtum bestehen könnte, die erste (in Wahrheit unverwertbare) Aussage nicht mehr ungeschehen machen und daher - resignierend - auch wiederholen zu können.Warum jetzt aber Beschuldigte oder zeugnis- bzw. auskunftsverweigerungsberechtigte Zeugen zum einen dem Irrtum erliegen sollten, was sie einmal - und sei es bei der Polizei - gesagt haben, könnten sie nicht mehr zurücknehmen, zum anderen aber zeugnisverweigerungsberechtige Zeugen irrtümlich annehmen sollten, sie könnten auch Aussagen vor dem Ermittlungsrichter ungeschehen machen, erschließt sich mir nicht.
Insofern überzeugt mich die Annahme einer solchen - weiteren - Belehrungspflicht nicht.[16] Der Gewinn für die Rechte des Beschuldigten - und der zeugnisverweigerungsberechtigten Angehörigen - erscheint mir aus den dargestellten Gründen eher gering und nicht in der Lage, die in der Annahme einer Belehrungspflicht liegenden Nachteile aufzuwiegen. Zwar berücksichtigt der 2. Strafsenat in seinen Ausführungen auch die Belange einer effektiven Strafverfolgung:
Die vom Senat für notwendig erachtete Belehrungspflicht würde die Effektivität der Strafverfolgung nicht in nennenswertem Umfang in Frage stellen. Es ist nicht zu befürchten, dass die Entscheidungen der großen Mehrzahl der Zeugen nach einer solchen Belehrung anders ausfallen könnte als bisher, selbst wenn es einzelne Zeugen geben mag, für die eine solche Belehrung Anlass sein könnte, von einer Zeugenbekundung Abstand zu nehmen oder auf sie jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt zu verzichten. Dies wäre hinzunehmen, denn es entspricht der gesetzgeberischen Wertung, dem Persönlichkeitsrecht des Zeugen insoweit durch Einschränkung der Wahrheitsermittlung und damit letztlich auch der Strafverfolgung Rechnung zu tragen, und räumt dem Zeugen damit noch keine Befugnisse ein, die ihn - fernab des Konflikts, in dem er sich befindet und den er berechtigt für sich auch durch den Verzicht auf eine Aussage lösen kann - zum "Herren über das Verfahren" machen würde.
Er übersieht dabei aber das ganz praktische Risiko, dass die Notwendigkeit einer solchen Belehrung übersehen wird und daher ein Tatnachweis aus rein formalen Gründen später dann nicht mehr geführt werden kann. Denn je mehr Formalien zu beachten sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Formfehler einschleichen.[17] Nicht umsonst werden in der Hauptverhandlung Anträge (meist der Verteidigung) jedenfalls auch deshalb gestellt, weil eine fehlerhafte Bescheidung einen möglichen Revisionsgrund liefert. Dieser Preis ist meines Erachtens zu hoch. Das schließt ja nicht aus, eine solche Belehrung zu erteilen - bei ihrem Fehlen aber ein wichtiges, ja in entsprechenden Konstellationen oft das einzige oder zumindest ein entscheidendes Beweismittel als unverwertbar aus dem Verfahren auszuschließen, geht aus meiner Sicht zu weit.
Titelbild: © H. D. Volz / pixelio.de
Vgl. dazu bspw. BGH, Beschluss vom 11.01.2012 - 4 StR 523/11 - und BGH, Beschluss vom 11.01.2012 - 2 StR 482/11 - sowie BGH, Beschluss vom 11.01.2012 und Urteil vom 08.02.2012 - 2 StR 346/11 -, Groß-Bölting: "Der zur Zuständigkeit genötigte Richter" in ZIS 2012,371, die zusammenfassende Darstellung bei De legibus "Eskalation am BGH - die Nerven liegen blank” sowie den dortigen Beitrag “Machtkampf am BGH: “Mein persönliches Schicksal ist unerheblich”” und die umfängliche Berichterstattung in Fach- und Tagespresse. ↩︎
Sabine Rückert: "Der unbequeme Richter", DIE ZEIT 41/2011. ↩︎
Fischer/Krehl: "Vieraugenprinzip", in StV 2012, 550 als Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG vom 23.05.2012 - 2BvR 610/12, 2 BvR 625/12 -, oder auch Fischer/Eschelbach/Krehl: "Zehn-Augen-Prinzip", in StV 2013, 395, oder Fischer: "Der Einfluss des Berichterstatters auf die Ergebnisse strafrechtlicher Revisionsverfahren", in NStZ 2013, 425. ↩︎
Fischer, StGB, derzeit 62. Aufl. 2015 in Vorbereitung. ↩︎
Zuletzt in HRSS 9/2014, 324: "Strafbarkeit beim Dealen mit dem Recht?". ↩︎
So bspw. mit den Beiträgen "Geruch von Denunziation", Die ZEIT Nr. 6/2013 vom 31.01.2013, S. 50; "Der Deal zerstört das Recht", Die ZEIT Nr. 14/2013 vom 27.03.2013, S. 11; "Wahn und Willkür", Die ZEIT Nr. 35/2013, 22.08.2013, S. 13; "Völkisches Recht", Die ZEIT Nr. 51/2013 vom 12.12.2013, S. 8; "Täter, die sich für Opfer halten", Die ZEIT Nr. 7/2014 vom 6.02.2014, S. 23; "Bitte entschuldigen Sie, Herr Edathy", Die ZEIT Nr. 10/2014 vom 27.02.2014, S. 4; "Bonus für Fremde?", Die ZEIT Nr. 15/2014 vom 3.04.2014, S. 1; "Dieses Gesetz ist ein Witz!", Die ZEIT Nr. 27/2014, S. 8; "Was regiert die Welt?", Die ZEIT Nr. 34/2014 vom 14.08.2014, S. 38. ↩︎
Jedenfalls seit der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 15.10.1956 - GSSt 2/56 -. ↩︎
BGH 2 StR 495/12. ↩︎
So auch Prof. Dr. Dr. h.c. Georg Freund am 08.09.2014 in der Legal Tribune Online: "Keine Gerechtigkeit ohne Gesetzlichkeit". ↩︎
BGH, Beschluss vom 16.07.2014 - 5 ARs 39/14 -. ↩︎
BGH, Beschluss vom 24.06.2014 - 1 ARs 14/14 -. ↩︎
BGH 2 StR 656/13. ↩︎
Bereits dies stößt auf praktische Schwierigkeiten, weil für den (oft inhaftierten) Angeklagten - der zumeist von der Vernehmung ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wird - ein Pflichtverteidiger bestellt werden muss, den dieser erst auszuwählen hat, und der Verteidiger dann die Akten einsehen und sich einarbeiten muss; auch erlaubt die Terminslage des zuständigen Ermittlungsrichters nicht immer ein sofortiges Tätigwerden. Gar nicht sp selten ist es, dass das Tatopfer sich bis dahin entschlossen hat, seine Anzeige "zurückzunehmen" und nicht mehr aussagen möchte - auch bei durchaus gravierenden Vorwürfen und manchmal erheblichen Misshandlungen. ↩︎
Der Beschuldigte selbst wird in diesen Konstellationen regelmäßig von der Teilnahme an der Vernehmung auszuschließen sein, soweit er nicht ohnehin aufgrund auswärtigen Haftorts bereits kein Teilnahmerecht hat, siehe § 168c Abs. 3 und 4 StPO. ↩︎
Gegenteiliger Auffassung insoweit bspw. Dr. Johannes Kalb: "Rechtsprechungsänderung zu § 252 StPO". ↩︎
Insofern darf man nicht außer Acht lassen, dass allein schon der Gesetzgeber bereits seit einiger Zeit mit einer Vermehrung und Vervielfachung von Belehrungs- und Hinweispflichten beschäftigt ist, die regelmäßig auch schriftlich zu erteilen sind; man denke insoweit an die 2010 eingeführten schriftlichen Belehrungspflichten bei vorläufiger Festnahme nach § 1114b StPO, an die zum 01.10.2014 eingeführten Rechtsbehelfsbelehrungen im Zivilverfahren und an die großartige Idee umfassender Belehrungspflichten für Geschädigte in den neu zu schaffenden §§ 406i, 406j StPO gemäß dem Entwurf zum 3. Opferrechtsreformgesetz. Faktisch wird die Praxis diesen Verpflichtungen schon aus personellen Gründen - und angesichts der Verpflichtung zur schriftlichen Belehrung - nur in Form der Aushändigung von Merkblättern in geschraubtem Amtsdeutsch nachkommen können; der Gewinn dadurch erscheint mir sehr überschaubar zu sein. Wenn jetzt noch weitere Belehrungspflichten aus der Rechtsprechung hinzukommen, die zudem nicht kodifiziert sind, sich also unmittelbar aus dem Gesetz nicht erschließen lassen, sondern entsprechende Rechtskenntnisse erfordern, erhöht dass das Risiko der versehentlichen Missachtung solcher Pflichten weiter. ↩︎