"Bora" ist nicht nur "ein trockener, kalter und böiger Fallwind" und ein Automodell - warum auch immer man dafür einen Namen wählt, der Gedanken an einen "kalten Windstoß" oder "kalten Regenguss" wachruft -, BORA ist auch die Berufsordnung für Rechtsanwälte, eine aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung in §§ 59b, 191a BRAO (Bundesrechtsanwaltsordnung) durch die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) erlassene Satzung, in der die beruflichen Pflichten der Rechtsanwälte geregelt sind.
Die Verschwiegenheitspflicht des Rechtsanwalts
Zu diesen Pflichten gehört an herausgehobener - nämlich erster - Stelle die Pflicht zur Verschwiegenheit gemäß § 2 BORA, nach § 43a Abs. 2 BRAO eine der Grundpflichten des Rechtsanwalts, die sich als berufsrechtliches Äquivalent der strafrechtlich in § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB normierten Schweigepflicht darstellt. Sie gilt umfassend, bezogen "auf alles, was [dem Rechtsanwalt] in Ausübung seines Berufes bekannt geworden ist", und besteht auch "nach Beendigung des Mandats fort". Die Pflicht gilt nach § 2 Abs. 3 BORA nur dann nicht, "soweit diese Berufsordnung oder andere Rechtsvorschriften Ausnahmen zulassen oder die Durchsetzung oder Abwehr von Ansprüchen aus dem Mandatsverhältnis oder die Verteidigung des Rechtsanwalts in eigener Sache die Offenbarung erfordern".
Diese - und weitere - Ausnahmen sind auch tatbestandseinschränkend oder als Rechtfertigungsgründe im Hinblick auf die Strafvorschrift des § 203 StGB anerkannt. Die strafrechtlichen Offenbarungsbefugnisse unterteilen sich dabei in solche mit (ggf. konkludenter oder auch mutmaßlicher) Einwilligung des Berechtigten - hier also des Mandanten - und in diejenigen ohne Einwilligung oder gegen den Willen des Berechtigten, die dann auf gesetzlichen Ermächtigungen oder Verpflichtungen oder der Anwendung allgemeiner Rechtfertigungsgründe beruhen, hier namentlich des § 34 StGB (Notstand). Zu den gesetzlichen Regelungen zählen (als Anzeigepflicht) namentlich die - wenig praxisrelevante - Vorschrift des § 138 StGB (mit ihrer auch für Rechtsanwälte geltenden Einschränkung in § 139 Abs. 3 StGB) und (als Anzeigerecht) bspw. § 12 GwG oder auch ganz konkret nur für Rechtsanwälte die Norm des § 49b Abs. 4 S. 1 BRAO. Anerkannt sind überdies (unter dem Gesichtspunkt des § 34 StGB) auch Offenbarungsrechte zur Abwehr erheblicher Gefahren von Dritten oder der Allgemeinheit (einschließlich der Verhütung noch bevorstehender erheblicher Straftaten) oder zur Wahrnehmung berechtigter Interessen des Schweigepflichtigen, bspw. zur Verteidigung in einem Strafverfahren oder auch zur zivilrechtlichen Rechtsverfolgung bspw. im Honorarprozess.
Ob die berufsrechtliche Verschwiegenheitspflicht weiter geht als die strafrechtliche Schweigepflicht, weil sie - neben der Berufsordnung und anderen Rechtsvorschriften - eine Offenbarungsbefugnis nur zur "Durchsetzung oder Abwehr von Ansprüchen aus dem Mandatsverhältnis oder [der] Verteidigung des Rechtsanwalts in eigener Sache" erlaubt, ob mithin eine Offenbarung zum Schutz wichtiger Rechtsgüter anderer Personen oder der Allgemeinheit unterhalb der Schwelle des § 138 StGB berufsrechtswidrig wäre, soll hier nicht erörtert werden.[1]
Festzuhalten bleibt: berufsrechtliche Verschwiegenheitspflicht und strafrechtliche Schweigepflicht haben für den Rechtsanwalt (und, natürlich, seinen Mandanten) viele Vorteile, aber auch einige Nachteile. So korrespondiert mit der anwaltlichen Schweigepflicht im Strafverfahren gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht sowie ein Beschlagnahmeverbot (§ 97 Abs. 1 StPO), mittlerweile ergänzt um allgemeines Verbot in den geschützten Bereich eindringender Ermittlungsmaßnahmen (§ 160a StPO). Sogar gegenüber dem sonst geradezu allmächtigen Datenschutzbeauftragten geht die Schweigepflicht des Rechtsanwalts vor.[2] Andererseits erschwert die Schweigepflicht natürlich auch so manche Tätigkeit des Rechtsanwalts wie bspw. den Forderungseinzug, der (wie bei Ärzten auch) nicht ohne weiteres extern vergeben werden kann[3]; dieser Befund lässt sich im übrigen auf das Outsourcing von Tätigkeiten aller Art verallgemeinern.
Neufassung von § 2 BORA - berufsrechtliche Verschwiegenheitspflicht
Dieses sog. "non-legal outsourcing" soll nunmehr aber durch eine Änderung von § 2 BORA ermöglicht bzw. erleichtert werden. Nach mehreren Anläufen hat die 5. Satzungsversammlung in ihrer 7. Sitzung nunmehr mit breiter Mehrheit mehrere Änderungen der Vorschrift beschlossen.
Zunächst treten - neben anderen Änderungen - in Abs. 2 der Vorschrift Offenbarungsbefugnisse ganz allgemein aus "Gesetz und Recht" an die Stelle von solchen (nur) aus "Berufsordnung oder anderen Rechtsvorschriften":
Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Verschwiegenheit (§ 43a Abs. 2 Bundesrechtsanwaltsordnung) liegt nicht vor, soweit Gesetz und Recht eine Ausnahme fordern oder zulassen.
Außerdem werden die bereits aus der Rechtsprechung und Lehre zu § 203 StGB bekannten zwei Fallgruppen ("Einwilligung" des Berechtigten und "Wahrnehmung berechtigter Interessen") in das Berufsrecht übernommen und um eine dritte Fallgruppe ergänzt:
Ein Verstoß ist nicht gegeben, soweit das Verhalten des Rechtsanwalts
a) mit Einwilligung erfolgt oder
b) zur Wahrnehmung berechtigter Interessen erforderlich ist, z.B. zur Durchsetzung oder Abwehr von Ansprüchen aus dem Mandatsverhältnis oder zur Verteidigung in eigener Sache, oder
c) im Rahmen der Arbeitsabläufe der Kanzlei einschließlich der Inanspruchnahme von Leistungen Dritter erfolgt und objektiv einer üblichen, von der Allgemeinheit gebilligten Verhaltensweise im sozialen Leben entspricht (Sozialadäquanz).
Diese letzte Fallgruppe betrifft nun das "non-legal outsourcing", also die Einbeziehung externer Dienstleister; als Beispiele genannt werden IT-Dienstleister oder Aktenvernichter. Flankiert wird die neue Erlaubnisnorm in Abs. 4 und 5 von der Verpflichtung, Mitarbeiter - auch außerhalb der eigentlichen Mandatsbearbeitung - wie auch externe Dienstleister zur Verschwiegenheit zu verpflichten.
Nach Prüfung der Norm durch das BMJV und Verkündung in den BRAK-Mitteilungen soll die Neuregelung dann Mitte bis Ende des Jahres 2015 in Kraft treten und das berufsrechtliche Problem des Outsourcings lösen - zumindest, sobald insoweit der Begriff der "Sozialadäquanz" mit rechtlichem Leben gefüllt und ausreichend abgegrenzt worden ist.[4]
Die strafrechtliche Schweigepflicht aus § 203 StGB
Doch ist damit das Problem des "non-legal outsourcing" auch insgesamt gelöst? Daran dürfen durchaus Zweifel bestehen, denn es besteht - wie bereits einleitend dargestellt - neben der Berufspflicht des Rechtsanwalts auch eine strafrechtliche Pflicht zur Verschwiegenheit, die mit der Berufspflicht nicht notwendig deckungsgleich sein muss.
Zwar pönalisiert § 203 StGB nur eine "unbefugte" Offenbarung; ob aber eine bloße Satzungsnorm, mag sie auch aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung erlassen worden sein, genügende Befugnis zur Offenbarung von Privatgeheimnissen verleiht, erscheint mir höchst zweifelhaft. Dies schon deshalb, weil das der BRAK verliehene Satzungsrecht sie (nur) zur Regelung der beruflichen Pflichten der Anwaltschaft berechtigt, nicht aber Befugnisse zur Einschränkung von Rechten Dritter verleiht. Die BRAK kann in der BORA berufsrechtliche Pflichten - insbesondere im Rahmen des § 43a BRAO - regeln, aufstellen und dementsprechend auch wieder einschränken; sie mag auch den Rahmen des § 43a BRAO ausfüllen und die nähere Bedeutung der dort allgemein aufgestellten Grundpflichten definieren. Sie kann aber nicht den strafrechtlichen Schutz des Mandanten aus § 203 StGB einschränken; dies ist vielmehr dem Gesetzgeber überlassen.
Nachdem § 203 StGB ein Rechtfertigungsgrund der "Sozialadäquanz" fremd ist und Rechtsprechung wie Lehre auch keine Tatbestandseinschränkung durch Herausnahme sozialadäquater Handlungen aus dem Bereich des § 203 StGB kennen, sondern diese Fälle[5] im wesentlichen auf der Grundlage einer (ggf. konkludenten oder mutmaßlichen) Einwilligung des Geheimnisträgers (Patienten oder Mandanten) lösen, wird § 2 Abs. 3 c) BORA n.F. hier dem Rechtsanwalt also nicht weiterhelfen. Überschreitet er durch sein Outsourcing die Grenzen des § 203 StGB, wird er sich weiterhin strafbar machen.
Hier hilft ein Blick auf die zu vergleichbaren Fragen im ärztlichen Bereich[6] bestehende Judikatur (soweit es sie gibt) und vor allem das Schrifttum. Dort wird bereits die Erledigung der ärztlichen Korrespondenz in der Klinik, also bspw. der Entlass- bzw. "Arztbriefe" an den weiterbehandelnden Arzt, durch ein zentrales Schreibbüro (wohlgemerkt: ein solches der Klinik!) als höchst problematisch erachtet;[7] gleiches gilt für externe Mitarbeiter in Dokumentationsstellen beim Einsatz von Bildarchivierungs- und Kommunikationssystemen (PACS).[8] Für externe Schreibdienste oder auch schon das Outsourcing des Telefondienstes an einen Sekretariatsdienstleister[9] ohne jeweils ausdrückliche Einwilligung des Mandanten kann man bei Zugrundelegung dieser Ansichten nur tiefschwarz sehen - denn die Einbeziehung externer Dienstleister als Hilfspersonen in den Bereich der ärztlichen oder eben auch anwaltlichen Tätigkeit ohne eine konkrete Zuordnung zu einem Berufsträger, verbunden mit einem entsprechenden direkten Weisungsrecht, ist danach bestenfalls hochproblematisch. Und das Bestehen eines solchen direkten Weisungsrechts gegenüber dem einzelnen "Gehilfen" wird man bei vertraglichen Beziehungen zu einem Dienstleister, dessen Mitarbeiter dem Rechtsanwalt regelmäßig noch nicht einmal namentlich, geschweige denn persönlich, bekannt sind, kaum annehmen können.
Mithin: "non-legal outsourcing" bleibt auch weiterhin spannend. Das geänderte Berufsrecht hilft dabei nur wenig.
Titelbild: Kristina Flour / Unsplash
Vielmehr geht es mir letztlich um den umgekehrten Fall. Dazu sogleich. ↩︎
Vgl. KG, Beschluss vom 20.08.2010 - 1 Ws (B) 51/07 – 2 Ss 23/07 -; a.A. (natürlich) Dr. Thilo Weichert: "Datenschutz auch bei Anwälten?", NJW 2009, 550, 553. ↩︎
Insbesondere stoßen Forderungsabtretungen, Factoring und Co. - ohne ausdrückliche Einwilligung des Mandanten - auf rechtliche Schwierigkeiten. ↩︎
Siehe dazu auch den Beitrag "Non-legal Outsourcing von Kanzleien" bei der Organisationsberatung Treysse. ↩︎
Man denke hier bspw. an die Kommunikation zwischen Ärzten (und Assistenzpersonal) in der Klinik sowie zwischen dem Hausarzt, niedergelassenen Fachärzten und dem klinischen Bereich, die Weitergabe von Informationen an Angehörige und insbesondere auch die Problematik der privatärztlichen Abrechnung durch Abrechnungsstellen und die Weitergabe von Patientenakten bei Praxisaufgabe oder -verkauf. ↩︎
Offenbar fällt es Juristen leichter, Mediziner zu reglementieren ... ↩︎
RA Dr. Jochen Langkeit: "Umfang und Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht gemäß § 203 I Nr. 1 StGB", NStZ 1994, 6, 8. ↩︎
Michael Inhester: "Rechtliche Konsequenzen des Einsatzes von Bildarchivierungs- und Kommunikationssystemen (PACS)", NJW 1995, 685, 688. ↩︎
Dies soll unbedenklich sein, vgl. ROLG Prof. Dr. Matthias Jahn, R'in Dr. Jasmin Palm, "Outsourcing in der Kanzlei: Verletzung von Privatgeheimnissen?", AnwBl 8+9/2011, 613 ff. Wenn man sich zuvor mit der Argumentation im medizinrechtlichen Bereich beschäftigt hat, beginnt man jedoch an dieser Bewertung zu zweifeln ↩︎