Am 14.11.2014 hat das Landgericht Essen - 35 KLs 14/13 - Dr. Thomas M., den früheren Vorstandsvorsitzenden der Arcandor AG, wegen 27 tatmehrheitlicher Vergehen der Untreue (im besonders schweren Fall) und drei weiteren tatmehrheitlichen Vergehen der Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zugleich wurde Haftbefehl erlassen und in Vollzug gesetzt, weil der Haftgrund der Fluchtgefahr bestand.

Beide Entscheidungen wurden viel diskutiert und waren Gegenstand umfangreicher Presseberichterstattung, die nicht immer von Sachkenntnis beeinträchtigt wurde. Dabei soll es gar nicht um die gerne verwendete - und dramatisch nachvollziehbare, aber dennoch falsche - Personifizierung des erkennenden Gerichts gehen, die sich - wie in solchen Fällen üblich - darin ausdrückt, dass "der Richter" ein Urteil gefällt und "der Richter" einen Haftbefehl erlassen habe, wiewohl beides eben nicht durch "den Richter", sondern durch das Gericht, und auch nicht durch den Vorsitzenden Richter allein, sondern eben durch die ganze Strafkammer erfolgt, an diesen Entscheidungen also entweder 4 oder 5 Richter, davon zwei Laienrichter, oder - bei einer Entscheidung außerhalb der Hauptverhandlung - immerhin noch 2 oder 3 Richter mitwirken. Ebenso wenig will ich Erkenntnisse wie diejenige der Wirtschaftswoche, "wenn ein Angeklagter weder Reue noch Einsicht zeigt, kann das Gericht das strafschärfend werten", auf die Goldwaage legen, wiewohl diese Darstellung vielleicht im Ergebnis hinkommen mag, inhaltlich aber dennoch grundfalsch ist.[1]

Vielmehr geht es mir um die teilweise zu lesenden Vorwürfe, die Entscheidung - oder der Erlass des Haftbefehls - sei zu hart, oder umgekehrt, nunmehr werde auch im Wirtschaftsstrafrecht endlich richtig durchgegriffen, und schließlich insbesondere um einen Kommentar in der Süddeutschen Zeitung zur Frage, ob der Haftbefehl nicht zwingend hätte außer Vollzug gesetzt werden müssen.

Das Urteil

Unterstellt, dass die tatsächliche und rechtliche Würdigung des Landgerichts zutrifft, also 27 Vergehen der Untreue (wenigstens teilweise) im besonders schweren Fall mit einem Gesamtschaden von rund 500.000,- € vorliegen, ist die Strafe als eher mild zu beurteilen. Sie ist nach hM[2] auch kein Zeichen einer Trendwende oder eines "Turning Point" in Wirtschaftsstrafsachen.

Zwar ist es richtig, wie man lesen kann, dass es gerade in den Prozessen des vergangenen Jahres gegen Top-Manager von Banken bislang nicht zu Verurteilungen gekommen ist; der Grund lag in diesen Fällen aber darin, dass risikobehaftetes Handeln ohne direkt eigennützigen Charakter strafrechtlich nur schwer zu fassen ist. Der Fall M. ähnelt insoweit aber eher dem klassischen "Griff in die Kasse", gehen die Vorwürfe doch dahin, dass der Angeklagte sich in großem Umfang Leistungen zu privaten Zwecken durch "sein"[3] Unternehmen hat bezahlen lassen, namentlich dienstlich nicht veranlasste Charterflüge. Zudem soll er objektiv und auch für ihn erkennbare unnötige Ausgaben veranlasst haben wie für seine Hubschrauberflüge zur Arbeit, obschon ihm Dienstwagen mit Fahrer und eine Dienstwohnung zur Verfügung standen. Das ist vergleichsweise leicht zu belegen und auch leichter rechtlich zu fassen als die Frage, wie gefährlich riskante Anleihengeschäfte genau waren, wer das wann erkannt hatte oder hätte erkennen müssen, und wieviel Risiko ein Vorstand dem von ihm geführten Unternehmen zumuten darf.

Auch lassen sich die Vorwüfe gegen M. aus diesem Grund einigermaßen mit dem eigennützigen "Griff in die Kasse" vergleichen, und da ist auch sonst regelmäßig spätestens irgendwo bei 100.000,- € die magische Zweijahresgrenze der noch bewährungsfähigen Freiheitsstrafe erreicht. Dass bei diesen Vorwürfen, einem Schaden von rund einer halben Million und einem uneinsichtigen Angeklagten sicherlich mehr als zwei Jahre Gesamtfreiheitsstrafe am Ende der Hauptverhandlung stehen werden, wenn es denn zu einer Verurteilung kommt, halte ich daher keineswegs für überraschend. Die Bezahlung privater Vorteile aus der Firmenkasse ist eben etwas anderes als riskante Anleihengeschäfte, und beides ist wiederum etwas anderes, als "nur" dem Staat seine Steuern vorzuenthalten.

Die Strafzumessung ist insofern m.E. nicht zu beanstanden; ein Strafmaß zwischen drei und vier Jahren war jedenfalls zu erwarten.

Der Haftbefehl

Ohne Kenntnis aller Umstände ist es sehr schwierig, zu beurteilen, ob Fluchtgefahr gegeben ist; hier liegt sie aber zumindest gut nachvollziehbar nahe.

Zwar ist eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren nicht übermäßig hoch und löst daher grundsätzlich auch keinen übermäßigen Fluchtanreiz aus, insbesondere nicht, wenn der Angeklagte in geordneten Verhältnissen, sozusagen "gutbürgerlich", lebt, einen Arbeitsplatz, eine Wohnung, ein Vermögen, eine Familie, einen Ruf zu verlieren hat. Nur erscheint nach der Berichterstattung doch durchaus zweifelhaft, wie geordnet die Verhältnisse des Angeklagten M. noch sind.

Neben dem hiesigen Verfahren, wo ihm die Haft droht - ein beispielloser Absturz, der ihn fraglos besonders haftempfindlich macht -, sind noch eine Vielzahl weiterer Verfahren anhängig, denen er sich in den verschiedensten Funktionen stellen muss, was sicherlich belastend ist, gerade mit dem über ihn schwebenden Damoklesschwert der (bis zu) dreijährigen Haftzeit; umso mehr, als sich wohl auch die Richtigkeit der von ihm abgegebenen eidesstattlichen Versicherung zu seinem Vermögensverzeichnis nicht ganz unzweifelhaft darstellt.[4] Auch ist M. angesichts der vielen gegen ihn laufenden Vollstreckungen - und wohl weiterer Schadensersatzprozesse - sicherlich in finanziellen Nöten. Dass er offenbar trotzdem noch über nicht unerhebliche Geldmittel verfügt, macht die Sache nicht besser - denn dies erlaubt ihm einmal leichter eine Flucht, und zum anderen muss er befürchten, dass seine Gläubiger ihm diese Mittel früher oder später abnehmen werden und/oder sich weitere mögliche Strafverfahren in diesem Zusammenhang ankündigen. Welcher beruflichen Tätigkeit der Angeklagte derzeit nachgeht, scheint auch nicht völlig klar zu sein; um so weniger, welche Jobs man einem Manager zukünftig anvertrauen mag, der wegen Untreue im Gefängnis gesessen hat. Damit wäre wohl auch zum Ruf alles nötige gesagt. Die Frage schließlich, wo M. überhaupt wohnt und sich tatsächlich aufhält, war für das Gericht der Berichterstattung nach ebenfalls nicht geklärt; naheliegenderweise jedenfalls auch im Ausland. Dazu kamen wohl abgelaufene Ausweispapiere und der Verdacht, er halte gültige Papiere zurück, und eine Weltläufigkeit und Auslandserfahrung, über die nicht jeder Bundesbürger in diesem Umfang verfügen wird. Wenn nun noch eine uneinsichtige Haltung und ein Prozessverhalten, das das Gericht offenkundig als alles andere als geradlinig und ehrlich aufgefasst hat, hinzutreten, erscheint nach alledem der Haftbefehl fast zwingend zu sein, kann aber jedenfalls nicht überraschen.

"Hausarrest hätte es auch getan"?

Soweit liegen denn auch Heribert Prantl, von dem der einleitend genannte Kommentar in der SZ stammt, und die hM noch auf derselben Linie:

Der Haftbefehl gegen Thomas Middelhoff war, ist und bleibt richtig.

Danach jedoch nicht mehr:

Es ist aber falsch, dass er jetzt nicht außer Vollzug gesetzt worden ist. Die Justiz darf niemanden zur Disziplinierung in der Zelle lassen - auch keinen arroganten Manager.

In diesem Kommentar steckt ja nun ein ganz erheblicher Vorwurf; nicht weniger als Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung (§§ 339, 239 Abs. 1 StGB) wird insinuiert, wenn man dem Gericht unterstellt, es handele "zur Disziplinierung" des Angeklagten und damit aus sachfremden Motiven.

Nachvollziehen lässt sich diese Wertung freilich nicht.

Richtig ist zwar, dass ein wegen Fluchtgefahr erlassener Haftbefehl außer Vollzug zu setzen ist, wenn die Fluchtgefahr auch durch "weniger einschneidende Maßnahmen" mit hinreichender Erfolgsaussicht beseitigt werden kann (§ 116 Abs. 1 S. 1 StPO). Unabhängig von den in § 116 Abs. 1 S. 2 StPO ausdrücklich genannten Beispielen gehören zu diesen Auflagen in der Praxis bspw. die Anweisung,

  • wieder einen (bestimmten) festen Wohnsitz zu nehmen,
  • jeden Wohnsitz- und Aufenthaltswechsel sofort anzuzeigen,
  • sich regelmäßig (meist einmal wöchentlich, in Ausnahmefällen öfter) bei der örtlich zuständigen Polizeidienststelle zu melden,
  • Auslandsreisen ohne Genehmigung des Gerichts zu unterlassen,
  • die Reisepapiere (Pass, Personalausweis) bei Gericht oder Staatsanwaltschaft zu hinterlegen und/oder
  • eine Sicherheitsleistung (Kaution) zu erbringen.

Diese Auflagen verfolgen dabei verschiedene Ziele.

Die Anordnungen, einen Wohnsitz zu nehmen und den jeweils aktuellen Wohnsitz mitzuteilen sowie Auslandsreisen zu hinterlassen, sind an und für sich offensichtlich nicht geeignet, eine Flucht zu verhindern; denn wer flüchtet, verstößt schlicht gegen diese Auflagen, und ist dann erst einmal weg. Sie dienen vielmehr dazu, auch den späteren Verlauf des Strafverfahrens, insbesondere die Ladungsfähigkeit, zu sichern und ggf. ohne großen Nachweisaufwand den Haftbefehl schlicht aufgrund eines Auflagenverstoßes wieder in Vollzug setzen zu können, wenn sich der Angeklagte ins Ausland absetzt, ohne darüber diskutieren zu müssen, ob das nun eine Flucht wahr oder nicht.

Meldeauflage, Abgabe der Reisepapiere und Sicherheitsleistung hingegen sollen unmittelbar die Flucht verhindern. Das können sie allerdings nur sehr bedingt; eine wöchentliche Meldeauflage lässt immerhin zwischen dem Vormittag des einen "Meldetages" und dem Abend des nächsten eine ganze Woche Zeit, um sich ein schönes Plätzchen zu suchen, und selbst bei einer in der Praxis kaum umsetzbaren täglichen Meldeauflage bleiben 24 Stunden Zeit zur Ausreise oder zum Untertauchen. Auch das reicht für eine Flucht aus.[5] Die Abgabe der Papiere erschwert eine Flucht immerhin spürbar; sie lässt aber immer noch die ganze Bundesrepublik und den Schengen-Raum als "Rückzugsort" offen, auch ohne den aus dem "Untergrund" gestarteten Versuch, neue Papiere zu beschaffen. Sie ist also gerade bei einem vermögenden Angeklagten von einem sicheren Fluchthemmnis weit entfernt. Mit am wirksamsten ist schließlich die Kaution, so lange sie ausreichend hoch gewählt ist und vor allem - ganz wichtig! - aus eigenen Mitteln des Angeklagten oder diesem nahestehender Personen kommt[6], denn die Kaution verfällt bei der Flucht und ist dann auch im Falle einer Wiederergreifung weg.

Der "Hausarrest", von dem Prantl zudem noch schreibt, dürfte ohne Möglichkeit, diesen zu überwachen, keinen erkennbaren Sinn zur Vermeidung einer Flucht haben; und dass eine "elektronische Fußfessel" bzw. "elektronische Aufenthaltsüberwachung" (EAÜ) - jedenfalls außerhalb Hessens - bereits zur Vermeidung von Untersuchungshaft realiter zur Verfügung stünde, wäre mir jedenfalls neu.

Bleibt also die - praktisch weitgehend symbolische - Meldeauflage, das Einbehalten der Papiere und eine ausreichend hohe Sicherheitsleistung aus eigenen Mitteln des Angeklagten.[7]

Und gerade hier scheinen sich, nach der Berichterstattung, Probleme zu ergeben. Denn die SZ selbst schreibt, dass M. "dem Gericht am Freitag im Gegenzug zur Aussetzung des Haftbefehls wegen Fluchtgefahr [angeblich] nur einen abgelaufenen Pass und nicht sein gültiges Reisedokument als Sicherheit vorgelegt habe", und dass darüber "spekuliert" werde, dass es "dem von Gläubigern umzingelten Middelhoff [...] in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen [sei], eine mutmaßlich stattliche Kaution aufzubringen". Letzteres liegt allerdings nicht fern. Beides würde im übrigen zwanglos begründen, warum erst am Freitag nach dem Urteil länger über eine Außervollzugsetzung diskutiert wurde und auch am Montag eine Haftprüfung zunächst ergebnislos verlaufen ist: weil es, wie das Gericht auch mitgeteilt hat, noch an entsprechenden Unterlagen fehlt, die - so darf man ergänzen - der ausreichenden Beseitigung der Fluchtgefahr - auch durch Auflagen - dienen.

Damit erschließt sich, wie ich meine, zwanglos, warum der Haftbefehl (noch) nicht außer Vollzug gesetzt wurde. Nachvollziehbaren Anlass zu Äußerungen wie der oben bereits zitierten oder Sätzen wie

Aber Volkszorn ist weder ein Haftgrund noch ein Grund, Haftverschonung zu verweigern. Die Arroganz des Managers auch nicht.

gibt die Angelegenheit daher gewisslich nicht - es sei denn, man wolle vor allem grantl'n ...

Titelbild: Emiliano Bar / Unsplash


  1. Fehlende Reue oder Einsicht oder ein fehlendes Geständnis dürfen niemals strafschärfend gewertet werden. Ihr Fehlen kann allenfalls dazu führen, dass Geständnis, Reue und/oder Einsicht nicht strafmildernd berücksichtigt werden. Das mag im Ergebnis zum selben Strafmaß führen, macht aber den Unterschied zwischen einer nahezu zwingenden Aufhebung des Urteils im Rechtsfolgenausspruch wegen fehlerhafter Strafzumessungserwägungen und einem "bestandskräftigen" oder "revisionssicheren" Urteil. ↩︎

  2. Nach hiesiger Meinung. :-) ↩︎

  3. Arcandor war gerade nicht M.'s Unternehmen; er war "nur" der Vorstandsvorsitzende, Eigner eines Unternehmens in der Form einer Aktiengesellschaft sind aber die Aktionäre. Wer schalten und walten will, wie "Big T." es nach der Auffassung des Landgerichts getan hat, muss als Einzelunternehmer sein eigener Herr sein (und sein eigenes Unternehmen aufbauen). ↩︎

  4. Dabei geht es um eine ausgerechnet während seiner Anwesenheit am Landgericht Essen quasi von seinem Handgelenk weg gepfändete Armbanduhr Piaget mit einem Listenpreis von rund 20.000,- €, die in seinem Vermögensverzeichnis offenbar nicht auftaucht, vgl. die Berichterstattung in der Welt und anderswo. ↩︎

  5. Das praktische Problem, dass Verstöße gegen Meldeauflagen regelmäßig nicht sofort, sondern erst nach (selten) Tagen, meist Wochen oder (manchmal auch) Monaten dem Gericht berichtet werden, ist dabei noch gar nicht berücksichtigt. ↩︎

  6. Wer wegen Untreue mit einem Schaden von rund 500.000,- €, den er ggf. dann auch wird ersetzen müssen, verurteilt wurde, dürfte kaum Hemmungen haben, eine durch Dritte (Banken o.ä.) gestellte Sicherheit verfallen zu lassen; das täte ihm nicht mehr "weh" als andere nicht erfüllte Verbindlichkeiten, und einem nackten Mann kann man bekanntlich nicht in die Taschen greifen. ↩︎

  7. Und selbst dann könnte man zweifeln, ob diese Auflagen genügen - denn die Außervollzugsetzung eines Haftbefehls bei bestehender Fluchtgefahr bedeutet immer ein Fluchtrisiko. Sie kommt daher regelmäßig nur dann in Betracht, wenn sich dieses vermindert hat. ↩︎