"Salafist trotz Fußfessel nach Syrien ausgereist" - so war es bei Spiegel Online zu lesen.

Unglaublich? Ein "Albtraum"?[1] Ein "Skandal"?[2]

Was offenbar geschehen ist

Der 24jährige "Hassan M." soll den Sicherheitsbehörden als "radikaler Islamist" bekannt sein. Er soll im Juni 2013 ein Kamerateam der ARD angegriffen haben und deshalb wegen schwerer oder auch gefährlicher Körperverletzung[3] angeklagt worden sein; der Prozess soll wohl im Februar 2015 beginnen.[4] Außerdem wurde wegen Einbruchdiebstahls gegen ihn ermittelt; ein deshalb erlassener Haftbefehl wurde gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt.[5] Zu diesen Auflagen gehörte auch eine "kleine Fußfessel", offenbar eine hessische Besonderheit. Dieses Gerät ermöglicht - im Gegensatz zur "großen Fußfessel" - nicht eine dauerhafte Überwachung per GPS-Ortung und Mobilfunkmodul, sondern nur über eine in der Wohnung befindliche Basisstation eine Kontaktaufnahme zur Überwachungszentrale. Es lässt sich also nur überprüfen, ob der Beschuldigte sich in seiner Wohnung aufhält oder nicht.

Im konkreten Fall hat "Hassan M." jedoch wohl am 01.05.2014 erst seine Wohnung und dann die Bundesrepublik Deutschland verlassen; derzeit soll er sich möglicherweise in Syrien und / oder auf dem heiligen Kriegspfad befinden (wenn diese flapsige Bemerkung erlaubt ist).

Die hiesige Meinung

Auf den ersten Blick erscheint es freilich skandalös, wenn ein bereits angeklagter - mutmaßlicher - Straftäter, zudem ein bekannter militanter Islamist, sich nicht nur dem Strafverfahren entzieht, sondern sich zu allem Überfluss möglicherweise auch noch dem "Islamischen Staat" anschließt. Auf den zweiten Blick ist dem allerdings nicht so.

Der Regelfall im deutschen Strafverfahren ist nämlich, dass der Beschuldigte während des Ermittlungsverfahrens, aber auch nach Anklageerhebung (nunmehr als Angeschuldigter) und nach der Eröffnung des Hauptverfahrens (dann als Angeklagter) auf freiem Fuß bleibt und auch die Hauptverhandlung als freier Mann erlebt. Selbst wenn er dort zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden sollte, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wird, bleibt er auf freiem Fuß, bis das Urteil rechtskräftig ist und er zum Strafantritt geladen wird. Erst wenn er dieser Ladung nicht Folge leistet und zum festgesetzten Termin nicht vor den Toren der Justizvollzugsanstalt erscheint, ergreift der Staat Zwangsmittel (hier dann in Form eines Vollstreckungshaftbefehls durch die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde mit anschließender Fahndungsausschreibung durch die Polizei bis zur Ergreifung).

Die Inhaftierung eines noch nicht Verurteilten, für den die Unschuldsvermutung streitet, bedarf nicht nur eines dringenden Tatverdachts, sondern auch eines Haftgrundes (§§ 112, 112a StPO), und sie muss schließlich verhältnismäßig sein. Verhältnismäßig ist sie insbesondere nur dann, wenn kein milderes Mittel den gleichen Zweck erreichen kann. Ansonsten ist der Haftbefehl zwar zu erlassen, aber sein Vollzug unter Auflagen auszusetzen. Nachdem die ganz weit überwiegende Mehrzahl der Haftbefehle auf den Haftgrund der Flucht oder Fluchtgefahr gestützt ist, sind übliche Auflagen die Niederlassung an einem festen Wohnsitz, die Mitteilung jeder Änderung von Wohnsitz bzw. regelmäßigem Aufenthaltsort und die Verpflichtung, sich regelmäßig - einmal wöchentlich oder öfter - bei der örtlich zuständigen Polizeidienststelle zu melden, ggf. ergänzt um die Verpflichtung, die Ausweis- und Reisepapiere bei Gericht oder Staatsanwaltschaft zu hinterlegen. Die aus (amerikanischen) Fernsehserien bekannte Hinterlegung einer Kaution ist hingegen - jedenfalls außerhalb der Wirtschaftskriminalität - eher ein Ausnahmefall.

Wie gut solche Auflagen einen ernsthaft verfolgten Fluchtplan verhindern können, lässt sich leicht vorstellen; selbst bei zweimal wöchentlicher Meldeauflage bleiben immer noch jeweils drei Tage für eine Flucht ins Ausland (immer vorausgesetzt, die Polizeidienststelle meldet sofort am Folgetag das Ausbleiben der Meldung - in der Praxis vergehen nicht selten Tage oder Wochen bis zu einer solchen Mitteilung), und auch das Einbehalten der Reisepapiere ist noch nicht einmal geeignet, den Beschuldigten an einer Verlustmeldung seiner Ausweise und deren Neuausstellung zu hindern. Die hessische Variante der "kleinen Fußfessel" ist da ein ganz enormer Fortschritt - aber auch sie verhindert natürlich nicht, dass ein Beschuldigter sich einfach in den Zug setzt, zum Flughafen fährt und dann zu einem Ziel seiner Wahl fliegt (sinnigerweise, nachdem er die Fußfessel zerstört und entfernt hat). Sicher verhindern lässt sich das schlicht nur dadurch, dass man den Haftbefehl eben nicht außer Vollzug setzt, sondern den Beschuldigten in Untersuchungshaft behält; alles andere bedeutet eine (geringe) Erschwerung der Fluchtmöglichkeiten, verhindert sie aber in keiner Weise, und stellt mithin immer nicht mehr als ein kalkuliertes Risiko dar. Ob man dieses Fluchtrisiko eingeht, ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit und damit der Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des - in diesem Fall - eines Einbruchsdiebstahls Beschuldigten, der wegen dieser Tat aber noch nicht verurteilt ist, und den berechtigten Belangen der Strafverfolgung. Je wahrscheinlicher die Flucht, je schwerwiegender die Tat, desto eher wird der Haftbefehl weiter vollzogen werden, und umgekehrt.

Dass der Beschuldigte im vorliegenden Fall noch (mutmaßlicher) Islamist ist und sich nicht nur der Strafverfolgung entzogen, sondern zu allem Überfluss wohl auch noch einer ausländischen terroristischen Vereinigung angeschlossen hat, ist - nur - für die Bewertung der Fluchtgefahr von Bedeutung. Eine tragfähige rechtliche Grundlage, solchen Personen unabhängig von einem laufenden Strafverfahren die Ausreise oder - noch wichtiger - die Rückkehr zu verweigern, besteht derzeit - soweit ich sehe - nicht (und hätte im übrigen auch mit der Frage nach der Fußfessel nichts zu tun). Ob die Strafverfolgungsbehörden - und nicht nur andere Sicherheitsbehörden - überhaupt Kenntnis von dem (mutmaßlich) islamistischen Hintergrund des Beschuldigten hatten und ob diese Informationen in einer Weise faktenbasiert und in das Verfahren einführbar waren, dass sie für die Haftfortdauerentscheidung verwertet werden konnten, ergibt sich aus der Berichterstattung nicht, ist aber eine (weitere) Frage, die man sich zur Beurteilung des Geschehens stellen muss; denn nicht jede Information insbesondere aus dem Bereich des Verfassungsschutzes ist im strengen strafprozessualen Sinne belegbar, und nicht jede Information soll dem Beschuldigten bereits bekanntgemacht werden (was aber zwingend geschehen muss, wenn auf diese Information die Fortdauer der Untersuchungshaft gestützt werden soll). Wenn die entsprechenden Informationen dem Haftrichter vorlagen, dann hat ihre Würdigung offenkundig zu keiner anderen Entscheidung geführt.

Insofern ist das Geschehen weder "unglaublich" noch ein "Skandal", sondern schlicht eine Verwirklichung des Risikos, das jeder Außervollzugsetzung eines Haftbefehls innewohnt. Wer verhindern möchte, dass "jemand, der bereits unter Anklage steht, einfach ausreist, und sich dann im Krieg engagieren kann in Syrien",[6] der wird jeden, der unter Anklage steht, in Untersuchungshaft nehmen müssen ...

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  1. So soll der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU den Vorgang laut "Report Mainz" genannt haben. ↩︎

  2. So soll die Beurteilung des Grünen-Bundestagsabgeordneten Nouripour lauten. ↩︎

  3. Ob der Vorwurf auf schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) oder gefährliche Körperverletzung (§ 224 StGB) lautet, wird unterschiedlich berichtet; aller Voraussicht nach letzteres, denn um den Verlust eines Körpergliedes oder eine dauerhafte Entstellung scheint es wohl nicht zu gehen, und wenn die Presse von "schwerer" Körperverletzung schreibt, ist fast immer gefährliche Körperverletzung im Sinne des Gesetzes gemeint. ↩︎

  4. So die Offenbach-Post online vom 15.10.2014: "Mit Fußfessel in den Heiligen Krieg" ↩︎

  5. Nicht "außer Kraft", wie es die Offenbach-Post formuliert, und es handelte sich auch ersichtlich nicht um eine Bewährungsauflage, wie Spiegel Online berichtet. ↩︎

  6. Diese Äußerung schreibt Spiegel Online dem Grünen-Bundestagsabgeordneten Nouripour zu. ↩︎